Neue Weltraumphänomene. Damit hatten die Forscher um Astrophysiker Joachim Trümper gerechnet, als sie 1975 vorschlugen, ein deutsches Röntgenteleskop in den Weltraum zu schicken, dass dort systematisch nach Quellen für Röntgenstrahlung suchen sollte. Aber dass ihr Projekt noch ganz andere Forschungsbereiche revolutionieren würde, ahnten die Forscher des Garchinger Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik (MPE) nicht.
Doch neben einer völlig neuen Kartografie des Weltraums lieferte der deutsche Röntgensatellit, kurz ROSAT genannt, der schließlich im Juni 1990 von Cape Canaveral aus startete, auch die Grundlage für eine zuverlässige Methode der Hautkrebsfrüherkennung, löste große Fortschritte in der Forschung zum Plötzlichen Herztod (PHT) aus und schuf die Möglichkeit, Augen perfekt zu vermessen und individuell anpassbare Gleitsichtgläser zu produzieren.
„So vielseitig funktioniert Forschung – wenn man keine Scheuklappen aufzieht“, sagt der ehemalige MPE-Direktor Gregor Morfill, der maßgeblich an der vielseitigen Verwendung der für die ROSAT-Mission entwickelten Technologie beteiligt ist. Ein weiterer Verdienst des Projekts sei, so Morfill, dass der potentielle bodenständige Nutzen von Raumfahrtechnologie seitdem mehr in den Fokus der Raumfahrtforscher gerückt ist.
Eine neue Art, das All zu erforschen
Die Röntgenastronomie gibt es erst seit den 1960er Jahren. Zwar fand man schon 1949 durch Experimente mit V2-Raketen heraus, dass die Sonne Röntgenstrahlen aussendet, doch die erste Röntgenquelle außerhalb unseres Sonnensystems wurde erst 1962 entdeckt – durch Zufall. Der italienisch-amerikanische Astrophysiker Riccardo Giacconi wollte während der Vorbereitungen für die erste Mondlandung mit einer NASA-Höhenforschungsrakete eine Röntgenstrahlung des Mondes nachweisen. Daraus wurde nichts: der Mond reflektiert nur die Strahlung der Sonne. Aber im Sternbild Skorpion ortete der Forscher eine helle Röntgenquelle – Scorpius X-1. Es sollte nicht die letzte bleiben.
Da die Forschungsraketen immer nur wenige Minuten im All bleiben konnten, schickte Riccardo Giacconi mit UHURU (1970) den ersten Röntgensatelliten ins All und entdeckte so 380 weitere Strahlungsquellen. Acht Jahre später setzte der Wissenschaftler auf dem Einstein-Observatorium zum ersten Mal ein abbildendes Röntgenteleskop auf einem Satelliten ein und fand rund 5000 weitere Röntgenquellen – darunter normale Sterne, die Explosionswolken sterbender Sterne, Pulsare, Weiße Zwerge, Schwarze Löcher, Galaxien und Galaxienhaufen.
Das Unsichtbare sichtbar machen
All diese Weltraumphänomene waren vorher für uns unsichtbar. Sie strahlen kein sichtbares Licht aus, mit normalen Teleskopen sind sie daher nicht zu sehen. Und von der Erde aus schon gar nicht: Unsere Atmosphäre blockt alle Röntgenstrahlen ab. „Mit dem Auge sieht man nur einen ganz schmalen Ausschnitt des elektromagnetischen Spektrums“, erklärt ROSAT-Initiator und wissenschaftlicher Leiter des Projekts, Joachim Trümper. „Heute nutzen wir den gesamten Wellenlängenbereich, um uns im All umzuschauen – von langen Radiowellen, sichtbarem Licht über Infrarot bis hin zu hochenergetischen Gammawellen, um astronomische Objekte zu untersuchen. Das ist eine ganz enorme Informationsvermehrung.“
Riccardo Giacconi, der 2002 für seine Pionierrolle in der Röntgenastronomie den Physik-Nobelpreis bekam, war ein großer Unterstützer der deutschen ROSAT-Mission und half, eine Beteiligung der NASA und den Transport ins All zu organisieren. Zunächst war ein Start mit dem Space Shuttle geplant. Nach dem Challenger-Unglück im Januar 1986 wurde aber umgeplant und der Satellit hob am 1. Juni 1990 mit einer konventionellen Delta II Rakete ab. Die NASA steuerte außerdem einen hochauflösenden Bildwandler bei. Auch die Briten beteiligten sich. Die University of Leicester schickten ein XUV-Teleskop als „Huckepack-Nutzlast“ mit ins All.
Das war wichtig, da die Finanzierung des Projekts durch die Bundesregierung an eine substantielle internationale Beteiligung geknüpft war. Plattform, Lageregelungs- und Messsystem des Satelliten wurden von Dornier-System und Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) – beide gehören heute zu Airbus – in Deutschland gebaut. Das Röntgenteleskop kam von Carl Zeiss und die Fokalinstrumentierung wurde am MPE gebaut. Das Management des Projekts übernahm das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR), die wissenschaftliche Leitung lag beim MPE.
Als das All zu lodern begann
Ausgerüstet mit dem größten und genauesten Wolter-Teleskop, das bis dahin gebaut wurde und extrem leistungsfähigen Röntgenbildwandlern, die eigens für die Mission am MPE entwickelt wurden, schickte ROSAT in den 1990er Jahren Bilder zur Erde, die man so noch nicht gesehen hatte: Das All loderte – in Farbe und einer noch nie dagewesenen räumlichen Auflösung. „Aus der Farbe kann man auf die Temperaturen in den Quellen schließen“, erklärt Joachim Trümper.
Die Bilder zeigen glühende Explosionswolken sterbender Sterne. Herumwirbelnde Pulsare und „Weiße Zwerge“, deren Oberflächentemperatur 300.000-mal heißer ist als unsere Sonne. Und Neutronensterne, an deren Polkappen 200 Millionen Grad heiße Feuerstürme toben. „Erst durch die Röntgenastronomie haben wir gelernt, wie heiß es im Universum ist“, sagt Trümper. „Das sind Temperaturen weit jenseits dessen, was wir hier auf der Erde haben.“
Aus Monaten werden Jahre
Rund 18 Monate waren für die 560 Millionen Mark teure Mission veranschlagt, die Deutschland in die Führungsrolle der Röntgenastronomie katapultierte. Es wurden knapp acht Jahre. „Auf dem Satelliten waren Mikroprozessoren verbaut, die von der Bodenstation (GSOC) in Oberpfaffenhofen aus umprogrammiert werden konnten“, erzählt Joachim Trümper. „Als die ersten beiden Navigationskreisel ausfielen, gelang es einem Team von MBB, MPE und GSOC, die Magnetometer an Bord des Satelliten auf die an sich viel ältere Variante der Navigation im Erdmagnetfeld umzustellen. So konnten sie die Lebensdauer des Satelliten erheblich verlängern.“ Das war ein weiterer technologischer Durchbruch. Diese Methode wurde später auch für andere Satelliten im erdnahen Orbit angewendet. Erst am 12. Februar 1999 wurde ROSAT endgültig abgeschaltet.
In den ersten sechs Monaten seiner Mission scannte ROSAT den gesamten Himmel ab und erstellte mit dem PSPC (kurz für PositionSensitive Proportional Counter) – Detektor die erste Himmelsdurchmusterung, die jemals mit einem abbildenden Röntgen-Teleskop durchgeführt wurde. Danach konnten Wissenschaftler fast acht Jahre lang Beobachtungswünsche anmelden. Sie standen Schlange.
Beobachtungswünsche aus aller Welt
Insgesamt nutzen 4000 Wissenschaftler aus 24 Ländern die Chance, ferne Galaxien und Galaxienhaufen zu erforschen, normale Sterne, Röntgendoppelsterne oder Neutronensterne zu beobachten. Aber auch optisch sichtbare Objekte wie der Mond, die Planeten unseres Sonnensystems oder Kometen, von denen man keine Röntgenstrahlung erwartet hatte, zeigten sich durch das ROSAT-Teleskop in einem völlig neuen Licht.
Mehr als 9.000 Veröffentlichungen stützen sich auf die Daten der Erfolgsmission. Mehr als 200.000 Röntgenquellen sind in den ROSAT-Katalogen zusammengefasst. Sie sind nach wie vor die Referenz für Röntgenmissionen wie etwa der ESA-Mission XMM-Newton und der NASA-Mission Chandra, die beide seit 1999 im Orbit sind.
Heute nutzen wir den gesamten Wellenlängenbereich, um uns im All umzuschauen– von langen Radiowellen, sichtbarem Licht über Infrarot bis hin zu hochenergetischen Gammawellen.Joachim Trümper wissenschaftlicher Leiter der ROSAT Mission
Von der glattesten Oberfläche der Welt zur Gleitsichtbrille
Um Röntgenstrahlen im All sichtbar zu machen, braucht man ein abbildendes Wolter-Teleskop, dessen glatte Spiegel die einfallenden Strahlen reflektieren. Da die Wellenlänge der Strahlung sehr gering ist, mussten die Spiegel des Teleskops extrem glattpoliert sein, um eine zu große Streuung zu vermeiden. Nach langer gemeinsamer Forschung mit den Wissenschaftlern des MPE, produzierte die Firma Carl Zeiss acht, insgesamt zehn Quadratmeter große Teleskopspiegel mit einer Rest-Rauigkeit von 0,3 Nanometern – das entspricht in etwa dem Durchmesser von drei Wasserstoffatomen. „Sie kamen damit in das Guinnessbuch der Rekorde“, erzählt Joachim Trümper.
Die Fähigkeit, auf den millionstel Millimeter genau zu schleifen und zu polieren, übertrug Zeiss auf die Brillengläserproduktion. Um die Augen perfekt zu vermessen, nutzt das Optik-Unternehmen das Wellenfront-Messverfahren, das bei optischen Teleskopen auf der Erde dazu dient, bei der Beobachtung entfernter Objekte Verzerrungen durch atmosphärische Störungen auszugleichen. So kann jede Ungenauigkeit der Iris erkannt und durch einen perfekt angepassten Schliff ausgeglichen werden.
Algorithmen, die Informationsgehalt bestimmen
Gut acht Jahre lang schickte ROSAT täglich rund 800 Megabit Daten über das Radioteleskop in Weilheim an das Deutsche Weltraumkontrollzentrum bei der DLR in Oberpfaffenhofen. Die Bilder waren einzigartig – aber teilweise stark verrauscht, verpixelt oder von anderen Strahlungen überlagert. Immerhin waren manche Objekte mehr als 50 Millionen Lichtjahre entfernt.
Um die Zahl verwertbarer Bilder zu erhöhen, suchte Astrophysiker Gregor Morfill damals nach einer Methode, möglichst viele Informationen aus den ROSAT-Bildern zu extrahieren. „Gerade bei Bildern kann die richtige Software viele Informationen sichtbar machen, die mit Standard-Methoden prinzipiell nicht erfassbar sind“, erklärt Morfill.
Mit seinem Team entwickelte und patentierte der Forscher die „Scaling Index Method“ (SIM), einen nach Mustern suchenden Algorithmus, der Informationsgehalt und Position jedes einzelnen Bildpixels bestimmt und die Pixel, die nur wenige bis gar keine Informationen enthalten, herausfiltert. „So konnten wir auch Bilder wiederherstellen, die zu 90 Prozent verrauscht waren“, sagt Morfill. SIM wird seitdem kontinuierlich weiterentwickelt – von einer einfachen Skalierungs-Index Methode zu einer Skalierungs-Vektor Methode (SVM), in der auch die Ausrichtung der Strukturen einbezogen wird.
Mustersuche im Herzschlag
Durch eine Zufallsbekanntschaft bei einem Fußballspiel seines Sohnes – damals noch F-Jugend – kam der Forscher auf die Idee, seine SIM- Algorithmen auch für die Analyse von Herzfrequenzdaten einzusetzen. „Kurt Ulm, damals Medizinstatistiker an der TU München, zerbrach sich während des Spiels den Kopf über die Ursachen des Plötzlichen Herztods (PHT). Er war auf der Suche nach Mustern in den komplexen Extrasystolen des Herzschlags, “, erzählt Morfill. „Wir haben einfach probiert, ob die einfachen Analysenmethoden doch zu einfach waren und ob SIM uns vielleicht Antworten gibt.“
Nach ersten Tests entwickelte Gregor Morfill gemeinsam mit dem Kardiologen Georg Schmidt 1991 ein neues Verfahren, mit dem man aus den EKG-Daten herauslesen kann, wie groß die Gefährdung durch den Plötzlichen Herztod für den Patienten ist. „Wenn man etwas Neues entdeckt hat, fängt die Verantwortung, damit etwas Sinnvolles zu tun, erst an“, sagt Morfill. „Damals wurde mir klar, dass sehr viel in der Astrophysik steckt, das einen konkreten Nutzen auf der Erde hat.“
Von der Supernova zum Melanom
Durch die Kardiologen kam Morfill mit Wilhelm Stolz zusammen, damals leitender Oberarzt an der Dermatologischen Klinik der Universität Regensburg. Auch Stolz war auf der Suche nach Mustern. Er suchte nach einer zuverlässigen Methode, Hautveränderungen in Leberflecken zu analysieren, um die Entwicklung hin zum malignen Melanom, also zum schwarzen Hautkrebs, früher erkennen zu können. Schwarzer Hautkrebs ist die Hautkrankheit, die am häufigsten tödlich verläuft. Die Heilungschancen stehen am besten, wenn die Tumore erkannt werden, ehe sie vier Millimeter dick sind.
Im Projekt MELDOQ, kurz für Melanom Dokumentation, verwob das interdisziplinäre Team aus Dermatologen der Uni Regensburg, MPE-Forschern und der Firma Rodenstock die ROSAT-Bildanalysesoftware mit der Dermatoskopie. Der SIM-Algorithmus, entwickelt um feinste Farbnuancen in kosmischen Objekten einzuordnen, eignete sich perfekt, um Farbveränderungen und die charakteristischen Muster bösartiger Zellen zu erkennen. Zusätzlich wurden die Lichtreflexionen an der Haut vermindert und die Strukturen auf das Zehnfache vergrößert.
Wenn man etwas Neues entdeckt hat, fängt die Verantwortung, damit etwas Sinnvolles zu tun, erst an. Damals wurde mir klar, dass sehr viel in der Astrophysik steckt, das einen konkreten Nutzen auf der Erde hat.Gregor Morfill Astrophysiker
„Wilhelm Stolz hatte bereits die dermatoskopische ABCD-Regel entwickelt, um Hautärzten Kriterien an die Hand zu geben, mit denen sie unter den vielen Typen von pigmentierten Hautveränderungen die malignen Melanome identifizieren und beschreiben konnten“, erklärt Gregor Morfill. „Wir konnten diese Regel nun mathematisch umsetzen. Kombiniert mit der Möglichkeit, die Entwicklung jedes Melanoms digital zu dokumentieren und so optische Vergleichsmöglichkeiten für die Ärzte zu schaffen, ergab das einen zuverlässigen Früherkennungstest.“
Aus dem Projekt gründete sich die Firma Dermoscan, die seitdem Maßstäbe in der optischen Diagnostik setzt. Heute, nach knapp 20 Jahren, nutzen die Dermoscan-Geräte ebenfalls längst eine neue Generation von Algorithmen. „Wir haben uns kontinuierlich weiterentwickelt, aber unser Erfolg fußt auf der Weltraumforschung“, sagt Geschäftsführer Hans Polz. „Diese Art der Grundlagenforschung ist enorm wichtig – letztendlich profitieren wir alle davon.“
Die nächste deutsche Röntgenmission hebt bald ab
Das Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik (MPE) plant derweil die nächste Röntgenrevolution. eROSITA (extended ROentgen Survey with an Imaging Telescope Array) startet diesen Sommer auf dem russischen „Spektrum-Röntgen-Gamma“ (SRG) Satelliten, von Baikonur aus in einen L2 Orbit – 1,5 Millionen von der Erde entfernt.
Das eROSITA Teleskop besteht aus sieben identischen Wolter-1 Spiegelmodulen. Um die größtmögliche Empfindlichkeit zu erreichen, enthält jedes Modul 54 ineinander verschachtelte Spiegelschalen. Vier Jahre lang soll es den Himmel durchmustern – 25-mal genauer als die ROSAT-Durchmusterung – und dabei unter anderem rund 100.000 Galaxienhaufen vermessen.