- GemeinschaftsprojektDie Internationale Raumstation (ISS) ist ein Projekt der Raumfahrtagenturen der USA, Russlands, Europas, Kanadas und Japans. In Europa sind Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Norwegen, Schweden, die Schweiz und Spanien beteiligt.
- 1000 m3So viel Platz bietet die ISS ihrer Besatzung zum Leben und Arbeiten: Sechs Forschungslabore, eine Beobachtungskuppel, zwei Wohnbereiche, Stauräume, Verbindungsknoten, Andockvorrichtungen und Roboterarme. Von der Fläche her ist die ISS etwa so groß wie ein Fußballfeld.
- Columbus-ModulEuropas ISS-Weltraumlabor ist 6,9 Meter lang und hat einen Durchmesser von 4,5 Metern. Drei Astronauten können gleichzeitig darin arbeiten. Das Modul hat ein in Deutschland entwickeltes unabhängiges Lebenserhaltungssystem.
- SachleistungFünfmal flog das Automated Transfer Vehicle (ATV), eine in Bremen integrierte Versorgungsfähre, zur ISS. Die Raumfrachter waren Europas Beitrag zu den Betriebskosten der Raumstation und etwa so groß wie ein Londoner Doppeldeckerbus.
- Wichtigster Partner in EuropaDeutschland ist mit rund 37 Prozent am Betrieb der ISS und mit rund 45 Prozent an der wissenschaftlichen Forschung auf der Raumstation beteiligt.
- Beteiligte BDLI-UnternehmenAirbus, ArianeGroup, Hensoldt, Jena-Optronik, OHB, SCYSIS, Telespazio VEGA Deutschland, Tesat-Spacecom, Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
Seit ziemlich genau 21 Jahren saust sie in etwa 400 Kilometern Höhe um die Erde. 90 Minuten, dann ist sie einmal rum. Damals, als die USA, Russland und Europa noch an Ideen für eigene Raumstationen tüftelten, hätte niemand gedacht, dass eine Internationale Raumstation einmal so selbstverständlich sein könnte. Heute ist es kaum eine Zeitungsmeldung wert, dass derzeit Amerikaner, Russen, Italiener und ein Astronaut aus den Vereinigten Arabischen Emiraten gemeinsam auf der ISS leben und forschen. Star Trek-Erfinder Gene Roddenberry hätte seine Freude daran gehabt.
Die Geschichte der Internationalen Raumstation (ISS) lässt sich sehr gut beim Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR) nachlesen. Nur soviel: Schon die internationalen Verträge, die zu Bau und Nutzung der Raumstation geschlossen wurden, sind einzigartig. Freiheit der Forschung und friedliche Zusammenarbeit waren und sind das oberste Gebot der Raumstation.
Die deutsche Raumfahrt war von Anfang an mit dabei – immerhin brachte sie einiges an Erfahrung mit an den Tisch: das wiederverwendbare Forschungslabor Spacelab, das 1983 zum ersten Mal auf der US-Raumfähre Columbia mitflog, wurde in Bremen entwickelt und gebaut. Und als es Anfang der 2000er Jahre endlich mit der Forschung auf der ISS losging, schickte der Münchner Physiker Gregor Morfill vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik gemeinsam mit Kollegen am russischen Institute for High-Energy Densities (IHED) in Moskau das allererste wissenschaftliche Experiment auf die Raumstation. Das Plasma-Kristall-Experiment (PKE) blieb von März 2001 bis 2005 im Orbit und leitete ein völlig neues Forschungsfeld mit „kalten Plasmen“ ein. Heute wird kaltes Plasma, das multiresistente Bakterien, Viren und Sporen zuverlässig abtötet, in der Wundheilung, Wasseraufbereitung und sogar bei der Vermeidung unangenehmer Bratengerüche eingesetzt.
Richtig international wurde es erst mit Columbus und Kibo
Fast zehn Jahre lang schien die Raumstation jedoch eher ein amerikanisch-russisches Gemeinschaftsprojekt zu sein – bis im Februar und Juni 2008 die europäischen und japanischen Weltraumlabore Columbus und Kibo andockten und die ISS zu dem machten, was sie bis heute ist: Eben nicht nur das größte Technologieprojekt aller Zeiten, sondern der Beweis, dass mehr als 15 Nationen in der Lage sind, über Jahre hinweg friedlich zu kooperieren. Dass es möglich ist, trotz unterschiedlicher politischer Systeme, vieler Rückschläge und dem furchtbaren Unglück der Raumfähre Columbia 2003, gemeinsam einen Außenposten der Menschheit im All zu schaffen. „Wenn wir über Kontinente hinweg so zusammenarbeiten können, dann können wir noch viel mehr zusammen erreichen“, fasst es der deutsche Astronaut und ehemalige ISS-Kommandant Alexander Gerst zusammen. „Wir müssen es nur versuchen.“
Ein Weltraumlabor aus Europa
Auch Europas Hauptbeitrag zur Raumstation, das Weltraumlabor Columbus, ist ein Gemeinschaftsprojekt – geschaffen von 41 Raumfahrtunternehmen aus zehn Ländern Europas, angeführt von Airbus Bremen. Deutschland schulterte mit 51 Prozent die Hauptlast der Kosten, Italien übernahm 23 und Frankreich 18 Prozent.
Der Löwenanteil der Inneneinrichtung des Weltraumlabors – von den Laborschränken bis hin zu Kabelbäumen, Steckverbindungen, Boards für die Bordrechner, Elektronik bis hin zum Flywheel, dem Astronauten-Fitnessgerät mit Jo-Jo-Technik – kommt von den Bremer Standorten von Airbus und OHB.
Das Lebenserhaltungssystem stammt von Airbus in Friedrichshafen, wie auch zahlreiche Experimentanlagen. Bei Airbus in Bremen wurde das Columbus-Modul dann zusammengebaut und qualifiziert, ehe es am 28. Mai 2006 mit dem Schwerlasttransportflugzeug Beluga ins Kennedy Space Center nach Florida geflogen wurde. Der Start war eigentlich für den 6. Dezember 2007 geplant, wegen defekter Tanksensoren an der Raumfähre Atlantis musste er jedoch mehrmals verschoben werden. Am 11. Februar 2008 wurde das Modul dann mit dem ISS-Knoten Harmony verbunden.
Forschung für die Erde – und fürs All
Die Experimente in der Schwerelosigkeit des Columbus-Labors dienen vor allem dazu, das Leben auf der Erde zu verstehen und es besser zu machen. Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Krebs, Osteoporose, Arteriosklerose werden erforscht, die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf den menschlichen Körper untersucht und so unter anderem Daten gesammelt für neue Therapiemethoden zur Rehabilitation nach Schlaganfällen oder Knochenbrüchen gesammelt. Andere Experimente haben das Ziel, neue Werkstoffe zu schaffen oder bekannte, wie etwa Beton, zu verbessern.
Im Fluid Science Laboratory wird untersucht, wie sich Flüssigkeiten in der Schwerelosigkeit verhalten. Diesen Sommer wurde hier das Experiment RUBI (englisch: Reference mUltiscale Boiling Investigation) installiert, mit dem Forscher herausfinden wollen, was genau passiert, wenn Flüssigkeiten kochen. Die Ergebnisse sollen dazu beitragen, künftig effizientere und umweltschonendere Kochherde, Heizungen zu bauen, sowie bessere Wärmetauscher für industrielle Fertigungsprozesse. Gebaut und für den Weltraum zertifiziert werden die Weltraumversuche unter anderem bei Airbus in Friedrichshafen oder OHB in Bremen.
„Die Forschung da oben ist einzigartig, weil dieses Labor durch nichts auf diesem Planeten ersetzbar ist“, sagt ESA-Astronaut Alexander Gerst. „Wir können diese Forschung durch keinen Aufwand und für kein Geld der Welt auf der Erde durchführen.“ Dreihundert Experimente hätten er und sein Team allein zwischen Juni and Dezember 2018, während seiner Zeit als Commander auf der ISS durchgeführt, berichtete Gerst im Mai 2019 dem Wirtschaftsausschuss des Bundestages. Sechzig von der ESA – und vierzig aus Deutschland. „Da sieht man, wie gut repräsentiert wir als Deutsche da auf der Raumstation sind“, sagt Gerst.
Neben den wissenschaftlichen Experimenten forschen ESA und die deutsche Raumfahrtindustrie auch daran, neue Systeme für Raumfahrtmissionen jenseits des niedrigen Erdorbits zu entwickeln. Wie zum Beispiel das in Friedrichshafen entwickelte Lebenserhaltungssystem ACLS (englisch für Advanced Closed Loop System), das vor gut einem Jahr von Alexander Gerst in das NASA-Labormodul Destiny eingebaut wurde. Das System senkt die hohe CO2-Konzentration in der Kabinenluft der ISS und versorgt die Raumstation mit zusätzlichem Sauerstoff. Das Experiment läuft noch bis Ende des Jahres und wird kontinuierlich von einem Team in Friedrichshafen überwacht.
Wir können diese Forschung durch keinen Aufwand und für kein Geld der Welt auf der Erde durchführen.Alexander Gerst ESA-Astronaut
Bayern hat eine direkte Verbindung ins All
Überhaupt sind die Astronauten auf der ISS niemals unbeobachtet. Ein weltweites Netzwerk von Kontroll- und Nutzerzentren überwacht und steuert alle Systeme auf der ISS. Europa koordiniert seine Aktivitäten auf der Raumstation vom bayerischen Oberpfaffenhofen aus. Das Columbus Kontrollzentrum (Col-CC) ist Teil des Deutschen Raumfahrtkontrollzentrums (GSOC) des DLR. Hier wurden schon Mitte der 80er Jahre die deutschen astronautischen Missionen auf dem NASA Space Shuttle, betreut, wie auch die Flüge deutscher Astronauten zur russischen Raumstation Mir. Airbus ist als industrieller Partner der ESA maßgeblich an dem Management des Columbus Moduls beteiligt. In Bremen sitzt ein vielköpfiges Team, dass sich um die Betriebsabläufe im Weltraumlabor kümmert – von Softwareupdates bis hin zum Transport von neuen Experimenten zur ISS.
Im Col-CC stehen rund 80 Wissenschaftler und Ingenieure ständig in Verbindung mit der ISS. Sie begleiten die Astronauten unter anderem bei der Durchführung der Experimente und sorgen dafür, dass die gewonnenen Daten so schnell wie möglich über die in ganz Europa verteilten User Support Operation Center (USOC) zu den Wissenschaftlern gelangen. Die USOCs sind die Schnittstelle zwischen den Wissenschaftlern und dem Weltraumlabor. Neun gibt es, quer verteilt in Europa, von Dänemark bis Italien. Jedes ist auf ein anderes Forschungsfeld spezialisiert. Das größte ist das Microgravity User Support Center (MUSC) beim DLR in Köln. In allen USOCs werden Experimente abgestimmt, vorbereitet und die Astronauten für ihre Aufgaben im All geschult.
Die Software für Col-CC und MUSC und kommt von dem Bochumer Raumfahrt-Software-Experten SCISYS. Die Videokommunikation mit dem Columbus-Modul und die Live-Überwachung der Experimente läuft mit SCISYS-Systemen, wie auch die übergeordnete Management-Software, das Integrated Management System (IMS), mit dem sich – im Sinne eines „System-of-Systems“ – alle Komponenten des Bodensegments konfigurieren, steuern und überwachen lassen. Technische Unterstützung vor Ort bekommt das DLR von Teams des Darmstädter Raumfahrt-IT-Spezialisten Telespazio VEGA Deutschland.
ATV – das modernste Versorgungsschiff der Raumfahrt
Schon bei der Unterzeichnung der ersten Verträge war klar, dass die europäische Weltraumagentur (ESA) ihre Beiträge zu den Betriebskosten der ISS keinesfalls einfach an die USA überweisen, sondern als Sachleistungen erbringen würde. Das Geld wurde – und wird – in Europa ausgegeben und in die technische Entwicklung in der Raumfahrt gesteckt. Der ISS-Versorgungsfrachter ATV (englisch für „Automated Transfer Vehicle) ist ebenfalls ein europäisches Gemeinschaftsprojekt der ESA – und wurde ebenfalls in Deutschland montiert und getestet. Von 2008 bis 2014 starten fünf ATV vollgepackt mit mehr als 6,5 Tonnen Wasser, Sauerstoff, Treibstoff, Lebensmitteln, Kleidung und wissenschaftlichem Material zur ISS. Laut ESA war es „das größte, modernste und weltweit leistungsfähigste Versorgungsschiff der Raumfahrt“.
Die Mühe hat sich gelohnt: „Ohne das ATV würde das Servicemodul für die Raumkapsel Orion wohl nicht aus Europa kommen“, sagt Oliver Juckenhöfel, Standortleiter Airbus Bremen und meint damit das Orion ESM (European Service Module) für die das nächste bemannte Raumschiff der NASA. Das ESM wird Antrieb, Strom, Wasser, Luft und Wärme für die Raumkapsel liefern, mit der Astronauten nach 50 Jahren auf den Mond zurückkehren werden. „Durch unsere Erfahrung mit dem ATV und der ISS wissen wir, wie Raumschiffe, wie Lebenserhaltungssysteme funktionieren müssen. Die NASA kann ohne uns nicht fliegen – und wir nicht ohne die NASA“, so Juckenhöfel.
Die ATV blieben bis zu sechs Monate an dem russischen ISS-Modul Swesda angedockt, dienten nach der Entladung als zusätzlicher Wohnraum und halfen, die Flugbahn der ISS zu korrigieren. Durch den Widerstand der Atmosphäre wird die Raumstation abgebremst und verliert pro Tag etwa 50 Meter an Höhe. Mit bis zu 6.5 Tonnen Abfall beladen verließen sie dann die Station, um in der Atmosphäre zu verglühen.
Ohne das ATV würde das Servicemodul für die Raumkapsel Orion wohl nicht aus Europa kommen.Oliver Juckenhövel Standortleiter Airbus Bremen
Starke deutsche Beteiligung
Nach der Entwicklung des ersten ATV, benannt nach dem französischen Science-Fiction Autor „Jules Verne“, kam bei jedem der weiteren vier ATV mehr als die Hälfte der Technologie aus Deutschland: Die Raumschiffe selbst wurden in bei Airbus in Bremen gebaut, die Antriebssektionen von der ArianeGroup in Lampoldshausen gefertigt. Auch die Steuerdüsenmodule wurden dort integriert. OHB und MT Aerospace lieferten aus Bremen und Augsburg für jedes Flugmodell rund fünf Kilometer Leitungen und Kabel, die Tanks des Antriebsegments und die Schutzschilde MDPS, (englisch: Meteoroid and Debris Protection System) zum Schutz vor Meteoriten und Weltraummüll, die während der mehrtägigen Reise zur ISS mit 10-72 Kilometer pro Sekunde auf der Oberfläche den Raumfrachters einschlagen können.
Eine eigene Ariane für das ATV
Doch zunächst einmal mussten sie in den Weltraum gelangen. Mit rund 20 Tonnen Gewicht, einem Durchmesser von viereinhalb Metern und zehn Metern Länge war das ATV die größte und schwerste Fracht, die jemals von einer Ariane-Trägerrakete in den Weltraum transportiert werden sollte. Die ArianeGroup entwickelte daher ein eigenes „ATV-Modell“ – die Ariane 5 ES. Das ES steht für „Evolution Storable“, was mit „Weiterentwicklung als Lastentransport“ übersetzt werden kann.
Die Ariane 5 ES war die erste europäische Trägerrakete mit einer wiederzündbaren EPS-Oberstufe. Wiederzündbar musste sie sein, da das ATV in 260 Kilometer Höhe abgesetzt werden musste, um die ISS gut zu erreichen. . Entwickelt und gebaut wurde die Oberstufe, wie alle Ariane-Oberstufen, in Bremen. Angetrieben wurde die Ariane 5 ES von einem in Lampoldshausen entwickelten Aestus-Triebwerk. Für die Schwerlastfracht war sie zudem mit einer verstärkten VEB (Vehicle Equipment Bay) und einem eigens für den ATV-Transport entwickeltem Flugprogramm ausgerüstet.
Am 9. März 2008 setzte die Ariane 5 ES das erste ATV „Jule Verne“ nach einem Start vom europäischen Weltraumbahnhof in Kourou und einer Stunde und sechs Minuten Flug und zwei Wiederzündungen ab. Vier weitere Starts – in 2011, 2012, 2013 und 2014 – mit vier weiteren ATVs sollten folgen.
Treffen sich zwei Raumschiffe im Weltraum …
Sicherheit hat höchste Priorität, wenn sich zwei Raumfahrzeuge im Weltraum nähern – vor allem, wenn ein Raumschiff Menschen an Bord hat und beide mit einer Geschwindigkeit von 28.000 Kilometern pro Stunde um die Erde rasen. Die Andockmanöver der ATVs wurden daher zwar genauestens von der Erde und von den Astronauten auf der ISS überwacht, aber waren weitestgehend automatisiert. Das ATV war auch das erste automatische Raumfahrzeug, das optische Sensoren und relatives GPS zur Navigation nutzte. Das Thüringer Raumfahrtunternehmen Jena-Optronik entwarf und produzierte die Rendezvous- und Docking Sensoren (RVS), die dann auch auf den japanischen und amerikanischen ISS-Versorgungsfahrzeugen HTV und Cygnus eingesetzt wurden.
Mit dem System konnten die Raumfrachter ihre Entfernung und Anflugrichtung zur ISS aus einer Distanz von 3000 Metern messen. Dazu sendete der RVS-Sensor kurze Laserpulse, die von einem Spiegelsystem zur ISS gelenkt und von Reflektoren auf der ISS zurückgeworfen wurden. „Aus dem Zeitunterschied und der ‚Blickrichtung‘ des Spiegelsystems wurde dann während des gesamten Anflugs kontinuierlich automatisch Entfernung, Anflugwinkel und relative Geschwindigkeit errechnet“, erklärt Annett Feige, Director Public Relastions bei Jena-Optronik.
Tests mit neuen Navigationssensoren auf dem letzten ATV
Von Jena-Optronik kamen auch die neuen LIDAR-Sensoren (engl. Light Detection and Ranging), mit denen Airbus auf „Georges Lemaître“, dem fünften und letzten ATV, neue Navigationssysteme testete, die auch passive Ziele im Weltraum orten können. „Die Navigation der ATVs hat zwar reibungslos funktioniert – aber sie war auf die Reflektoren der ISS angewiesen“, erklärt Oliver Juckenhöfel, Standortleiter Airbus Bremen den Grund für das Experiment. „Da inaktive Satelliten keine Positionssignale aussenden, brauchen wir Sensoren, die Objekte im Weltraum ohne ihre Mitarbeit orten können. Nur so können Raumfahrzeuge in Zukunft Satelliten im Orbit warten oder Weltraumschrott entsorgen.“
Für das LIRIS-Projekt (englisch für Laser InfraRed Imaging Sensors), wurde das ATV-5 mit einer Reihe von Laserinfrarotbildsensoren ausgestattet und absolvierte extra Flugmanöver unter der ISS. „Der Flug des letzten ATV bot uns die Chance, die Sensoren unter Realbedingungen im Weltraum zu testen“, erklärt Juckenhöfel. „Das gibt es in der Raumfahrtforschung nicht oft.“
Auch nach seinem Abflug von der ISS diente „Georges Lemaître“ der Raumfahrtforschung: Das ATV tauchte in einem viel flacheren Winkel in die Atmosphäre ein als seine Vorgänger – um Daten für den gezielten Absturz der ISS zu sammeln. Um zu verhindern, dass die Fußballfeldgroße Station als Weltraummüll endet, soll sie eines Tages am Ende ihrer Lebensdauer abgebremst werden, bis sie so in die Atmosphäre eintaucht, dass möglichst viel verglüht. Der Rest soll im Südpazifik versinken.
Ein Balkon schafft Platz für kommerzielle Nutzer
Wann es soweit sein wird, ist noch nicht entschieden. Stattdessen werden verstärkt Pläne für weitere, kommerzielle Nutzungsmöglichkeiten gemacht. Die ESA lud diesen November Vertreter der Raumfahrtindustrie zum „Columbus 2030“ Workshop ins European Space Research and Technology Centre (ESTEC) in den Niederlanden, um gemeinsam darüber nachzudenken, die Boden- und Flugsegmente des Columbus-Weltraumlabors modernisiert werden können.
Hier hat die deutsche Raumfahrt die Nase ganz vorn: Gerade wird in den Bremer Airbus-Reinräumen „Bartolomeo“ zusammengebaut – eine Plattform für externe Nutzlasten, die ab März 2020 außen an das Columbus-Modul montiert wird. Airbus hat Bartolomeo und den dazugehörigen All-in-one Space Mission Service im Rahmen einer Public-Private-Partnership (PPP) entwickelt und wird die Plattform betreiben.
Benannt nach Christopher Columbus‘ jüngerem Bruder, wird der neue „Balkon“ mehr Platz auf der vollgepackten Raumstation schaffen. Platz, den Unternehmen und wissenschaftliche Institute für externe Experimente nutzen können, die nicht von den Astronauten betreut werden müssen. Erste Kunden haben sich bereits angemeldet, darunter auch die ESA, die im Oktober eine Absichtserklärung für mehrere Experimente auf der neuen Plattform unterzeichnet hat. „Das ist viel günstiger als ein Experiment in der ISS unterzubringen und eröffnet vielen kommerziellen Nutzern zum ersten Mal die Möglichkeit, ihre Technologie unter Weltraumbedingungen zu testen“, sagt Bartolomeo-Projektleiter Andreas Schütte bei Airbus in Bremen.
Es geht auch schneller. „Unsere Vorlaufzeit wird maximal 18 Monaten von Vertragsabschluss bis Start dauern.“ „Alle drei Monate starten reguläre Servicemissionen zur ISS und können Experimente als Fracht mitnehmen“, sagt Schütte. „Oben werden sie von den Astronauten ausgepackt und in die kleine Luftschleuse des japanischen Forschungslabors Kibo gestellt.“ Dort holt sich Canadarm2, der externe Roboterarm der ISS, die Behälter und installiert sie auf Bartolomeo. Über eine stehende VPN-Verbindung können Forscher direkt digital auf ihr eigenes Experiment zugreifen. Das T-OSIRIS (englisch für Tesat Optical Space Infrared Downlink System), ein Laserkommunikationsterminal von Tesat-Spacecom aus Backnang, wurde in Kooperation mit dem DLR entwickelt und wird Anfang 2020 an der Außenseite der ISS installiert. Mit der neuen, optischen Übertragungstechnologie, die Daten per Laser direkt zur Erde sendet, sind Übertragungsgeschwindigkeiten von bis zu zehn Gigabit möglich – und das vollkommen abhörsicher.
Perfekter Ausblick auf die Erde
Bartolomeo ist ideal für Forschungs- und Entwicklungsmissionen. „Sie können dieselben Tests durchführen wie mit einem Satelliten – mit dem Vorteil, dass die Hardware zur Erde zurückgebracht werden kann“, sagt Schütte. Neue Satelliteninstrumente können so unter realen Bedingungen getestet werden. Und einen elektronischen Antrieb kann man auf Bartolomeo einfach mal eine Weile laufen lassen und danach den Partikelfilter untersuchen. Andere Möglichkeiten sind Tests für Robotik-Lösungen, weltraumgestützte Fertigung oder Atmosphärenforschung. Von der ISS aus lässt sich die Erde zudem mit einer höheren Auflösung fotografieren als von den höheren Orbits der Satelliten aus. Vor allem bietet Bartolomeo als einziger Ort auf der Raumstation eine freie Sicht auf Erde und Weltraum. „Hier stehen Sie direkt auf der Veranda von Columbus“, sagt Andreas Schütte.
Wie geht es weiter mit der ISS?
Wie lang Airbus den Columbus-Balkon wird betreiben können, ist jedoch noch offen. Betrieb und Finanzierung der Internationalen Raumstation sind aktuell bis 2024 durch alle Partner gesichert. Aber kaum jemand glaubt, dass dann wirklich der Stecker gezogen und die ISS irgendwo über dem Südpazifik zum Absturz gebracht wird. Schließlich erfüllt der Außenposten im Orbit für viele noch einen weiteren, ganz besonderen Zweck, der weit über seinen Beitrag zur Forschung oder der Völkerverständigung hinausgeht: Die ISS ermöglicht uns Menschen einen einzigartigen Perspektivwechsel. „Wenn wir aus der Raumstation rausschauen, sehen wir Dinge, die uns zum Nachdenken zwingen“, sagt Alexander Gerst. „Dinge, die uns zeigen, wie verletzlich und eben auch klein unser Planet ist.“
Die ESA sieht die Sache jedoch eher pragmatisch. „Das ist wie bei einem Auto, bei dem man sich fragt, wie lange man es wohl noch fahren wird“, sagte Bernardo Patti, der bei der ESA das ISS-Programm und die Abteilung Exploration leitet, der ZEIT. Die entscheidende Frage werde 2024 sein, ob noch eine Basis im niedrigen Erdorbit benötigt. Derzeit spräche alles dafür. „Wenn wir dann dieselben Vorteile, dieselbe Menge an Experimenten und dieselben Crewgrößen haben wollen, ist es billiger, die vorhandene Infrastruktur zu nutzen.“ Zertifiziert ist die ISS bis 2028 – dann sind die ältesten Bauteile 30 Jahre im All. Danach, so Patti, käme es darauf an wie reparaturbedürftig die Station sei – und ob sich jemand findet, der bereit ist, die Unterhaltkosten der Raumstation zu bezahlen. Zwar war die Besatzung noch nie ernsthaft in Gefahr, aber ziemlich zerschrammt ist die ISS schon: kosmische Teile und Weltraumschrott haben eine Menge Spuren hinterlassen, berichten Astronauten. Und die NASA möchte schon ab 2025 ihr Geld in andere Projekte stecken und die Versorgung der Raumstation lieber kommerziellen Raumfahrtunternehmen überlassen. Doch das muss nicht das Ende der ISS bedeuten, sagt Bernardo Patti. „Wer will ausschließen, dass Stationen im erdnahen Orbit ein Geschäft werden, so wie es auch bei Kommunikations- und Erdbeobachtungs-Satelliten der Fall war?“